Während der ersten 36 Jahre meines Lebens stellte das Essen Dreh- und Angelpunkt meines Alltags dar – weshalb ich dem Ende einer Mahlzeit immer mit gemischten Gefühlen entgegensah.
Es ging dabei selten um den körperlichen Hunger. In den meisten Fällen waren die emotionalen Gründe und unterschiedlichen Assoziationen mit dem Essen der Hauptgrund für diese Fixation auf die Lebensmittelaufnahme. Deshalb fühlten sich auch meine ersten Versuche mit intuitiver Ernährung sehr stark nach Diät an: Ich sollte das Essen beenden, wenn ich angenehm satt war – nicht voll oder sogar „kurz vorm Platzen“.
Nur, wie soll das gehen, wenn es aber doch so gut schmeckt? Wenn Essen einfach Spaß macht? Wenn ich schon nach wenigen Minuten satt bin, aber mich seit zwei Stunden auf diese Mahlzeit gefreut habe? Wenn ich danach wieder lange warten muss, bis ich wieder essen „darf“? Und überhaupt, wie fühlt sich „angenehm satt“ eigentlich an, wenn ich nur „voll“ kenne?
Dieser Artikel ist Teil der Serie über die 10 Grundprinzipien der Intuitiven Ernährung. Hier findest du eine Übersicht über alle Prinzipien:
1- Ablegen der Diätmentalität
2- Hunger ernst nehmen
3- Friedensschluss mit dem Essen
4- Kampf gegen die Essenspolizei
5- Sättigung respektieren
6- Entdecke den Genussfaktor
7- Gefühle ohne Essen bewältigen
8- Respekt für den eigenen Körper
9- Bewegung ohne Kampf
10- Intuitive gesunde Ernährung
Sättigung entdecken
Die Schattierungen des Sättigungsgefühls wahrzunehmen und zu erkennen war für mich so ziemlich der schwierigsten Lernprozess auf dem Weg zu einem entspannten Umgang mit dem Essen. Und es wird nicht einfacher durch den Umstand, dass die Stufen vor dem Rappelvoll-Sein sehr viel subtiler und individueller sind als zum Beispiel das klare Grummeln im Bauch als Anzeichen für Hunger.
Wenn Du nicht sicher bist, wie sich dieses Gefühl anfühlt, dann gibt es Wege, ihm auf die Spur zu kommen. Das wird sich erst einmal ziemlich holprig und unpraktisch anfühlen, doch ich verspreche dir, dass sich diese Holprigkeit nur auf die Lernphase beschränkt.
Nimm dir eine Mahlzahl am Tag, die Du in Ruhe und ohne Stress oder Ablenkung verwenden kannst, um dein Sättigungsgefühl besser kennen zu lernen. Achte darauf, dass du körperlich ausreichend hungrig bist, damit du die Nuancen besser wahrnehmen kannst. Versuche nun mindestens eine oder besser mehrere der folgenden Übungen zu integrieren:
#1 Fühlen: Nimm bewusst war, wie sich dein Bauch, dein Brustkorp, der Hals und die Kehle anfühlen und versuche, im Verlauf der Mahlzeit Änderungen wahrzunehmen.
#2 Atmen: Atme vor und während der Mahlzeit bewusst mehrfach tief ein und aus. Das bringt dich innerlich zur Ruhe und schafft Raum für Genuss. Wie unterscheidet sich die Erfahrung von normalen Mahlzeiten, wenn du erst nach drei tiefen Atemzügen mit dem Essen beginnst?
#3 Genießen: Genieße dein Essen ganz bewusst. Nimm dein Umfeld in dich auf, die Sonne, schließe die Augen, mache es dir bequem. Was ist unabhängig vom Essen das Angenehmste an diesem Moment?
#4 Schmecken: Achte auf die Textur, das Gefühl, die Akzente im Geschmack, die Geräusche. Nimm wahr, welche Aspekte du als besonders angenehm empfindest und welche eher unangenehm wirken. Verändert sich der Geschmack mit der Anzahl der Bisse?
#5 Pause: Lege nach etwa der Hälfte der Mahlzeit das Besteck aus den Händen und fühle in dich hinein. Wenn du magst, kannst du mehrere Pausen einlegen. Wie hat sich dein Hungergefühl verändert? Kannst du dich auf der Hunger-Skala ungefähr einordnen?
Die Mahlzeit beenden
Als ich besser wahrnehmen konnte, wie sich mein angenehmes Sättigungsgefühl anfühlt, hieß das noch nicht automatisch, dass ich auch mit Leichtigkeit aufhören konnte zu essen. Lange habe ich nach dem perfekten Moment aufzuhören gesucht. Inzwischen weiß ich, dass es den nicht gibt.
Damit du dir den Tritt in die „intuitive Diätfalle“ ersparst, ist es super, super, super wichtig, dich zu entspannen! Es gibt im Leben immer wieder Momente, wo man mal mehr und mal weniger isst, als es der körperliche Hunger vorgibt. Und das ist völlig okay so. Wir sind keine Computer, die nach festem Schema F programmiert wurden und fortan diesem Code folgend funktionieren. Das Leben fließt und ich glaube, dass wir die glücklichste Lebenserfahrung machen, wenn wir mit diesem Fluss mitgehen.
Natürlich ist aber Ziel des Ganzen, mehr und mehr auf die Bedürfnisse des Körpers einzugehen und ihn eben nicht permament mit Lebensmitteln zu befüttern, wenn er eigentlich eher Ruhe zum Verdauen bräuchte. Insofern gibt es wichtige Aspekte, die dir helfen, die Mahlzeit auch zu beenden, wenn du merkst, dass dein Körper genug hat.
#1 Uneingeschränkte Erlaubnis zu essen: Du wirst deine Sättigung nur entspannt respektieren können, wenn du weißt, dass du jederzeit weiter essen kannst. Erinnere dich daran, dass deine Diätzeiten vorbei sind und es keine Regeln mehr gibt. Bewahre dir Reste auf und markiere sie gegebenenfalls, wenn du Angst hast, dass ein hungriges Familienmitglied gedankenlos darüber herfallen könnte. Lass dir im Restaurant deine Reste einpacken oder bitte den Gastgeber um etwas Folie für den Transport.
#2 Gute Aussichten: Einen Tipp aus Josie Spinardi’s Buch fand ich besonders hilfreich: Plane eine angenehme Tätigkeit direkt nach dem Essen ein. Denn natürlich ist die Versuchung groß, das Essen bis zum letzten Krümel auszukosten, wenn danach nur der Abwasch oder eine ungeliebte Aufgabe auf dich wartet. Indem du dir fünf Minuten nimmst, in denen du etwas tust, worauf du dich freust, schaffst du einen entspannten Übergang und das Essen bleibt nicht allein auf dem Sockel der angenehmen Aspekte des Tages. Lies einige Seiten in einem Buch, stöbere durch Pinterest, spiele ein kurzes Spiel auf deinem Telefon oder kritzel einige Tangles in deinen Tagesplaner. Wenn es nicht anders geht, ist auch das Klo ein guter Ausweg für fünf Minuten Ruhe…
#3 Genuß: Damit dein Gehirn auch die volle Erfahrung deiner Mahlzeit als genussvoll registrieren kann, ist es wichtig, dass du nicht nur so nebenbei isst. Nur wenn auch dein Kopf davon überzeugt ist, dass diese Mahlzeit befriedigend war, wirst du bereit sein, das Essen zu beenden. Andernfalls suchst du nach dem Essen weiter und arbeitest dich Kostproben nehmend durch die Küchenschränke, ohne so richtig ans Ziel zu kommen.
#4 Die Frage nach dem nächsten Bissen: Wenn du merkst, dass du deiner Sättigung so langsam näher kommst, dann frage dich hin und wieder, ob du dich nach dem nächsten Bissen besser oder eher schlechter fühlen wirst. Achte jedoch darauf, dass dies völlig wertfrei und keinesfalls verurteilend geschieht. Indem du deine Erfahrung mit Gefühlen verbindest und diese bewusst wahrnimmst, baust du einen starken Rückschluss in dein Gehirn ein, der verlässlicher funktioniert als Willenskraft. Dieser Tipp stammt auch von Josie Spinardi und hat mir unglaublich geholfen, meine Esserfahrung mehr mit meinem Körper zu verknüpfen.
Wenn das Aufhören schwierig ist
Es gibt viele Gründe, warum es schwerfallen kann, eine Mahlzeit zu beenden bevor man übervoll oder der Teller leer ist.
Wenn Du die Diätmentalität nicht wirklich abgelegt hast, dann bleibt bei jeder Mahlzeit die unterschwellige Angst, dass es so etwas Leckeres bald nicht mehr gibt. Unter diesem Umstand ist es völlig natürlich die Mahlzeit bis zum letzten Bissen auskosten zu wollen.
Vielleicht warst du aber auch nicht in der Lage, dein Essen wirklich zu genießen – sei es aus Ablenkung oder weil es dir nicht schmeckte. In diesem Fall überlege dir, wie du noch einen Genussmoment einbauen kannst, ohne am Ende randvoll zu sein. Vielleicht für fünf Minuten mit der Lieblingsmusik im Ohr in der Sonne sitzen? Einen Tee trinken? Einige Seiten lesen? Hierbei geht nicht um Ablenkung, sondern um den Versuch, verlorenen Genuss auszugleichen.
Möglicherweise kannst du aber auch nicht aufhören zu essen, weil du deinem Hunger nicht adäquat begegnet bist. Du hattest großen Hunger auf etwas Handfestes, zum Beispiel ein gutes Nudelgericht, und hast aus irgendwelchen Gründen versucht, deinen Magen größtenteils mit Salat und Wasser zu füllen. Dann ist es gut möglich, dass du nicht aufhören kannst, nach dem Baguette zu greifen, obwohl du bereits jenseits der angenehmen Sättigung angekommen bist.
Wenn man eine Mahlzeit mehr aus seelischem als aus einem körperlichem Bedarf heraus beginnt, dann ist es kaum möglich, dem Sättigungsgefühl zu folgen. Es ist völlig okay, in diesen Momenten zu essen, du darfst nur nicht erwarten, dass dir dein Bauch eine körperliche Rückmeldung geben kann. Versuche herauszufinden, was du wirklich gerade brauchst und entdecke Wege, wie du deiner Seele das geben kannst, worauf sie versucht hat Aufmerksamheit zu ziehen.
Leere Teller und die armen Kinder in Afrika
Vielleicht fällst es dir aber auch schwer, einen Mahlzeit „vorzeitig“ (sprich: Deinem Sättigungsgefühl gemäß) zu beenden, weil du als Kind gelernt hast, dass man seinen Teller leer essen muss. Wenn du aus einer Familie kommst, wo es niemals Reste auf irgendwelchen Tellern zu sehen gab, dann erfordert es einige Übung und einige Zeit, diesen Kulturschock zu überwinden. Versuche dir bewusst zu machen, dass diese Ratschläge aus Zeiten der Lebensmittelknappheit stammen und auf unser Leben im modernen Schlaraffenland keine Anwendung finden.
Natürlich heißt das nicht, dass man sich sinnlos den Teller vollschaufelt, nur um dann 90 Prozent in den Müll zu werfen. Doch die allermeisten von uns sind in der glücklichen Lage, jederzeit und überall Zugriff auf Lebensmittel zu haben und somit besteht auch nicht länger irgendeine Notwendigkeit, den Teller leer zu essen. Diese Regel ist eng verbunden mit der gern verwendeten Aussage, dass arme Kinder in Afrika nichts zu essen haben.
Mit diesem Schuldgefühl lässt sich zwar vielleicht der Rest auf dem Teller noch tapfer runterschlucken – doch damit wurde noch niemals irgendeinem Kind in Afrika geholfen. Gleiches gilt für das notgedrungene Essen von Resten aus dem Kühlschrank, die niemand mehr mag und von einem dann aufopferungsvoll gegessen werden, damit sie nicht in den Müll wandern müssen.
Ich bin durchaus ein Befürworter vernünftiger Planung und sinnvollen Umgangs mit Lebensmitteln. Doch es ist wichtig zu beachten, dass in dem Moment, wo Lebensmittel gekocht werden und auf dem Teller landen, sie „dem Untergang geweiht“ sind. Dieser Untergang endet entweder in unserem Magen und schließlich in der Toilette oder direkt im Müll.
Einen menschlichen Körper weit jenseits seines Bedarfs mit Lebensmitteln vollzustopfen, hat genauso wenig mit einem verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln zu tun wie das unbedachte Wegwerfen von Produkten einen Tag nach Ablauf des Verfallsdatums. Mit einer Spende kannst du mehr gegen den Welthunger erreichen, als mit einem leeren Teller oder widerwillig gegessenen Resten…
Sättigung durch Getränke und leichte Speisen
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Getränke während einer Mahlzeit die Wahrnehmung meiner Sättung ziemlich durcheinander bringen können. Trinken am Beginn einer Mahlzeit kann dafür sorgen, dass man schneller satt ist, aber nach relativ kurzer Zeit wieder Hunger verspürt – was ich persönlich für sehr unpraktisch halte. Gleiches gilt für Salate und Lebensmittel mit viel Volumen, aber verhältnismäßig wenig Nährstoffgehalt.
Trinken direkt am Ende der Mahlzeit hat wiederum oft den Effekt, dass eine angenehme Sättigung durch die zusätzliche Flüssigkeit plötzlich unangenehm wird. Um also möglichst entspannt durch den Alltag zu gleiten, trinke ich persönlich lieber zwischen den Mahlzeiten – und auch das nur nach Durstgefühl und nicht mehr nach Litervorgabe, doch dazu gibt es noch einen extra Artikel. Beobachte einfach, wie sich diese Speisen auf dich, dein Sättigungs- und nachfolgendes Hungergefühl sowie die Praktikabilität im Alltag auswirken und orientiere dich dann an dem, was sich gut anfühlt.
Wenn du meinst, dass es für dich unmöglich ist, ein halbes Stück Käsekuchen auf dem Teller zurückzulassen, weil du satt bist, dann möchte ich dich ermutigen, dass es definitiv machbar ist.
Sei geduldig mit dir, behalte dich als ganzen Menschen im Blick (nicht nur den Magen als Verdauungsorgan) und genieße dein Leben. Dann kannst du Schritt für Schritt dein Sättigungsgefühl mehr und mehr respektieren, und zwar ohne das Gefühl zu haben, dass dir etwas entgeht.
Hier geht’s zum nächsten Grundprinzip.
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Hey!
Über die Suche nach der Hungerskala bin ich auf den Blog gestoßen und bei den Artikeln zum intuitiven Essen hängen geblieben.
Gerade heute habe ich mir gedacht, dass das Glas Wasser VOR dem Essen totaler Blödsinn ist, weil es mein Sättigungsgefühl durcheinander bringt. Ich esse weniger, als mir gut täte und kriege schneller wieder Hunger. Auch die Erfahrung mit dem Trinken danach teile ich zu 100%! Der Bauch fühlt sich erst einmal übervoll an und ich hadere mit mir, ob ich rechtzeitig mit dem Essen aufgehört habe. Völlig unnötige Sorgen! Wenn ich die Flüssigkeit eben NICHT zu den Mahlzeiten einnehme, ist alles in Balance.
Freue mich gerade wie ein Schnitzel, dass ich mit der Erfahrung nicht allein bin!
Ganz liebe Grüße
Karin
Liebe Karin,
Oh, das freut mich riesig! Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für so nette Worte genommen hast 🙂
Ganz liebe Grüße,
Heidi